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Literaturcafé : Christian Petzolds freie Verfilmung von Anna Seghers’ Exilroman „Transit“
2. April 2019 um 19:00 - 21:00
Liebe Literaturcafé-Freundinnen und Freunde,
das nächste Literaturcafé findet statt in der nächsten Woche am Dienstag, dem 2. April, um 19:00h in der Kulturschmiede.
Es geht um Christian Petzolds freie Verfilmung von Anna Seghers’ Exilroman „Transit“ aus dem vergangenen Jahr mit Franz Rogowski und Paula Beer in den Hauptrollen, die im heutigen Marseille spielt. „Ich hab’ keine Lust auf historische Filme mehr, keine richtige. Ich mag nicht die Zeit nachstellen. Ich finde, wenn man die Zeit, Vergangenheit erzählt, muss man sie vergegenwärtigen“, so Petzold. Es ist sein Lieblingsbuch, das er zusammen mit seinem Freund einmal im Jahr gelesen habe: „Ich finde, dass dieser Roman von Anna Seghers eigentlich unsere Geschichte ist: dieses In-die-Welt-Geworfensein“. Gleichzeitig sieht er in in Seghers‘ äußerst vielschichtigem Roman eine Art „Gespenstergeschichte“: „Für die Exilanten wird die Zeit angehalten und dreht sich nicht mehr weiter. Die Vergangenheit, die sie haben, interessiert niemanden. Eine Zukunft haben sie nicht, sie leben nur im Jetzt. Und das Jetzt nimmt sie nicht auf.“
Der Inhalt von Roman und Film:
Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen 1940 bzw. 2018 zu Tausenden in Marseille ein. Sie hetzen nach Visa, Stempeln, Bescheinigungen, ohne die sie den Kontinent nicht verlassen können. Im Chaos der Stadt, in den Cafés, auf der Jagd von Behörde zu Behörde kreuzen sich ihre Wege. Unter ihnen der Ich-Erzähler, der eine schmerzliche Liebe zu der Frau durchlebt, die rastlos ihren Mann sucht, an dessen Tod sie nicht glauben will. Mit falschen Papieren und – durch Zufall – mit der Hinterlassenschaft jenes Toten ausgestattet, erhält er durch glückliche Umstände eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Auf ihrer eigenen Odyssee von Marseille nach Mexiko – unmittelbar unter dem Eindruck ihrer persönlichen Erlebnisse – begann Anna Seghers an diesem Roman zu arbeiten. Dennoch spiegelt er die Ereignisse nicht einfach wider, sondern ist ein Werk großer Kunst und Künstlichkeit, voll Ironie, Spiel und scheinbarer Leichtigkeit.
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Nachtrag:
Viele von euch erinnern sich sicher an Christoph Hein und seinen Roman „Trutz“ mit seiner unfassbar genauen Kenntnis „verfolgungsgeschichtlicher“ Vorgänge in Nazi-Deutschland, der DDR und der Sowjetunion. Vielleicht interessiert sich die eine oder der andere für Heins kritische Stellungnahme (aus der Süddeutschen Zeitung) zur historischen Fundierung des Oskar-gekrönten Erfolgsfilms „ Das Leben der anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck, die ich euch hiermit zukommen lasse.
Ein Artikel der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 24.01.2019.
http://sz.de/1.4300244
Feuilleton, 24.01.2019
Erinnerungen
Mein Leben, leicht überarbeitet
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Gastbeitrag von Christoph Hein
Fast wäre ich weltberühmt geworden, aber eine selbstverschuldete Pedanterie verhinderte es. Wenn man, wie die Wiener sagen, etepetete ist oder etjerpotetjer, wie dasselbe einst im Niederdeutschen hieß, also eher pingelig denn bedenkenlos, verscherzt man sich häufig die schönsten Chancen seines Lebens. An einem Vormittag eines Sommertages im Jahre 2002 rief mich Ulrich Mühe an, ein befreundeter Schauspieler, mit dem ich gelegentlich beruflich zu tun hatte. Er fragte, ob er mich mit einem Filmregisseur aufsuchen könne, der ein paar Fragen habe. Ich sagte zu, und bereits drei Stunden später erschien Freund Mühe mit einem sehr jungen und sehr großen Mann, den Ulrich mir als Filmregisseur vorstellte.
Wir gingen in ein Gartenlokal in der Nähe meiner Wohnung, bestellten uns Essen und Getränke, der Regisseur holte einen Stift und einen Block aus seiner Tasche und fragte, ob er nun fragen könne. Ich nickte, waren wir doch deswegen zusammengekommen, und er bat mich, ihm das typische Leben eines typischen Dramatikers der DDR zu beschreiben, denn er beabsichtige, einen Film über einen typischen DDR-Dramatiker zu drehen. Ich lachte auf und sagte, es gebe da kein typisches oder normatives Leben und schon gar nicht einen solchen Dramatiker. Mit Klischees komme er nicht weiter, er solle sich lieber auf einen einzigen Autor beschränken und den möglichst genau und mit allen Facetten schildern. Nun bat er, dann möge ich doch ein wenig von meinem Leben erzählen, und das tat ich.
Vier Stunden saßen wir im sonnigen Gartenlokal und ich redete, Ulrich hörte zu, der Regisseur schrieb sich einiges auf und sagte schließlich, er sei mir unsäglich dankbar. Nun wisse er doch über das Leben in Ostdeutschland Bescheid, wisse, wie es in dieser Diktatur zugegangen sei, ich hätte ihm entscheidend geholfen. Vier Jahre später erhielt ich eine Einladung zu der Premiere eines Films, in dem mein Freund Ulrich Mühe die Hauptrolle spielte. Ich war überrascht, als mein Name im Vorspann auftauchte und mir für meine Mitarbeit gedankt wurde. Am Tag nach der Premiere schrieb ich dem Regisseur einen Brief und verlangte, dass mein Name im Vorspann nicht genannt werden dürfe, denn mein Leben war anders als in „Das Leben der Anderen“ dargestellt.
Der Regisseur war überrascht und verwundert, erklärte mir, dass er lediglich in aller Öffentlichkeit seine Dankbarkeit hatte bekunden wollen. Meine Einwände gegen seinen Film akzeptierte er nicht, ein Melodram habe nicht allein der Wahrheit zu folgen, sondern vor allem den Gesetzen des Kinos. Alles, was ich ihm ein paar Jahre zuvor erzählt hatte, war von ihm bunt durcheinandergemischt und dramatisch oder vielmehr sehr effektvoll melodramatisch neu zusammengesetzt worden. Im Kino sitzend hatte ich erstaunt auf mein Leben geschaut. So war es zwar nicht gewesen, aber so war es viel effektvoller.
Der Held des Films sitzt im Jahr 1989 an einem Artikel über Selbstmorde in der DDR, den er für eine westdeutsche Zeitung schreibt, was ich sofort als Anspielung auf meine Anti- Zensur-Rede von 1987 erkannte. Dass der Held über einen anderen Konflikt des Staates sprach, störte mich nicht. Die Änderung war zwar unnötig und für mich nicht nachvollziehbar, aber beides, Zensur wie Selbstmord, waren in der DDR so heikle Themen, dass darüber öffentlich eigentlich nicht gesprochen werden konnte.
Jedoch dass der Filmheld seine Arbeit konspirativ anfertigen muss, sie auf einer dramatisch versteckten Schreibmaschine schreibt, das Manuskript in Agentenmanier in den Westen schmuggelt, dass er, der einer der berühmtesten Autoren des Landes sein soll, samt seiner Freundin, ebenfalls sehr berühmt, von der Staatssicherheit abgehört und lebensbedrohend bedrängt wird, all das ist bunt durcheinandergemischter Unsinn.
Gewiss, die Staatssicherheit hatte, wie ich dem Regisseur an jenem Sommertag Jahre zuvor berichtet hatte, für ein Dreivierteljahr meine Wohnung insgeheim verwanzt, weil ich einer Flugblattaktion wegen in ihr Visier geraten war. Aber damals war ich ein Student und es waren die Sechzigerjahre. In den Achtzigern sah es inzwischen anders aus. Der Staat bekam allein mit Repressionen seine Untertanen nicht mehr in den Griff, die Ausreiseanträge mehrten sich, viele geschätzte Künstler verabschiedeten sich für immer, die Grenze wurde durchlässiger.
Nein, „Das Leben der Anderen“ beschreibt nicht die Achtzigerjahre in der DDR, der Film ist ein Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt, vergleichbar mit Tolkiens Mittelerde. Der Herr der Ringe wollte mit einem Märchen die reale Welt beschreiben, es sollte wohl eine Allegorie sein, in der Sauron der Abscheuliche für Stalin stehen soll und Saruman, der Mann der schlauen Pläne, Hitler darstellen sollte, während die Freien Völker die Alliierten verkörperten.
Mein Leben verlief völlig anders. Aber diese Wahrheit ist für ein Melodrama ungeeignet. Um Wirkung zu erzielen, braucht es ein Schwarz-Weiß, werden edle Helden und teuflische Schurken benötigt. Der Regisseur war über den Wunsch, meinen Namen im Vorspann zu streichen, offenbar sehr verärgert und sagte nie wieder, er sei mir unsäglich dankbar. Stattdessen erzählt er seitdem, er habe sich bei seinem Film von der Biografie und den Kämpfen Wolf Biermanns inspirieren lassen. Das ist natürlich völlig unsinnig, denn Biermann hatte man zwölf Jahre zuvor die Staatsbürgerschaft entzogen, so dass er in den entscheidenden Jahren des Zusammenbruchs des Staates und in dem Zeitraum in dem der Film spielt, nicht im Land sein konnte. Aber ich scheue mich, seinen Hinweis eine Lüge zu nennen. Weiß ich doch, dass es neben der Wahrheit noch die melodramatische Wahrheit gibt und neuerdings die alternativen Fakten. Hegel sagte, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen. Marx fügte hinzu: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Nachzutragen habe ich, dass auch ein dummer Jungenstreich sich wiederholt, und zwar als Hanswurstiade.
Denn zehn Jahre nach jener Filmpremiere erzählte mir ein Professor der Germanistik, er habe – aus welchen Gründen auch immer – meine Anti-Zensur-Rede von 1987 mit seinen Studenten besprochen. Die Studenten hätten ihn gefragt, wie viele Jahre Gefängnis der Autor dieses Textes wegen bekommen habe. Der Professor erwiderte, der Autor sei nicht ins Gefängnis gekommen. Darauf meinten die Studenten, dann sei dieses Pamphlet erst nach 1989, also nach der Wende, geschrieben worden. Nein, erwiderte der Professor, er selbst habe bereits 1987 diese Rede gelesen. Das sei unmöglich, beharrten die Studenten, so könne es nicht gewesen sein, sie wüssten das ganz genau, weil sie ja den Film „Das Leben der Anderen“ gesehen hätten. Man sei, sagte der Professor zu mir, nach diesem Seminar in Unfrieden voneinander geschieden.
Der Film wurde ein Welterfolg. Es ist aussichtslos für mich, meine Lebensgeschichte dagegensetzen zu wollen. Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen. Denn wenn auch die Tragödie zur Farce wird und schließlich zur Hanswurstiade, so endet doch alles als Melodram.