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Literaturcafe
9. August 2022 um 19:00 - 21:00
Liebe Literaturbegeisterte!
Darf ich euch für die kommenden zwei Monate zu einem Vergleich der Erzählerstimmen von zwei Romanen einladen?
- Termin: Dienstag, 9. August, 19:00h, Literaturcafé in der Kulturschmiede, An der Hütte 3, 42349 W.-Cronenberg
- Termin: Dienstag, 6. September, 19:00h, dito.
Zunächst geht es, wie schon länger verabredet, um das neueste Buch „Die Enkelin“ von Bernhard Schlink, geb. 1944, dem arrivierten Erzähler, weltberühmt durch seinen Roman „Der Vorleser“ und dessen Oskar-prämierten Verfilmung.
(Diogenes, 25,00 €)
Birgit ist zu Kaspar in den Westen geflohen, für die Liebe und die Freiheit. Erst nach ihrem Tod entdeckt er, welchen Preis sie dafür bezahlt hat. Er spürt ihrem Geheimnis nach, begegnet im Osten den Menschen, die für sie zählten, erlebt ihre Bedrückung und ihren Eigensinn. Seine Suche führt ihn zu einer völkischen Gemeinschaft auf dem Land – und zu einem jungen Mädchen, das in ihm den Großvater und in dem er die Enkelin sieht. Ihre Welten könnten nicht fremder sein. Er ringt um sie.
Im September dann folgt der meisterhaft erzählte Roman der vierzigjährigen Autorin Ayelet Gundar-Goshen aus Israel, der deutsche Titel heißt: „Löwen wecken“.
(Verlag Kein und Aber, 15,00 €)
Ein Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben –
warum also die Karriere gefährden und den Unfall melden? Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor der Haustür des Arztes und macht ihm einen Vorschlag, der sein geordnetes Leben komplett aus der Bahn wirft.Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Diese Frage schwebt über dem Roman, der die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung und Gut und Böse meisterhaft auslotet.
Und hier jetzt die beiden „Geschmacksproben“ in Form des jeweiligen ersten Abschnitt des Romans – Schlink beginnt im üppigen deutschen Sommer:
Er kam nach Hause. Es war zehn; donnerstags schloss er die Buchhandlung erst um neun, und wenn er um halb zehn die Gitter vor den Schaufenstern und der Eingangstür heruntergelassen hatte, nahm er den halbstündigen Weg durch den Park, länger als durch die Straßen, aber wohltuend nach dem langen Tag. Der Park war verwildert, die Rosenrabatte von Efeu überwuchert, die Ligusterhecke nicht geschnitten. Aber es roch gut, nach Rhododendron oder Flieder, Linde oder Götterbaum, gemähtem Gras oder nasser Erde. Er ging den Weg sommers wie winters, bei gutem wie bei schlechtem Wetter. Wenn er nach Hause kam, waren der Ärger und die Sorgen des Tags von ihm abgefallen.
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Und Ayelet Gundar-Goshen entführt unsere Fantasie nach Israel in die heiße Wüste von Beer Sheva:
Der Staub war überall. Eine dünne, weiße Schicht, wie der Puderzucker auf einer Geburtstagstorte, die kein Mensch wollte. Er sammelte sich auf den Wedeln der Palmen, auf den erwachsenen Bäumen, die von Lastwagen angekarrt und auf dem Hauptplatz in den Boden gesteckt worden waren, weil niemand jungen Setzlingen zutraute, in dieser Erde Wurzeln zu schlagen; er bedeckte die Wahlplakate, die drei Monate nach den Kommunalwahlen immer noch von den Balkonen der Häuser baumelten: Glatzköpfige, schnurrbärtige Männer spähen durch den Staub auf ihre potenziellen Wähler, einige mit kompetentem Lächeln, andere mit ernstem Blick, je nach Empfehlung des angeheuerten Medienberaters. Staub auf den Reklameschildern, Staub auf den Busstationen, Staub auf den Bougainvilleen, die schlapp vor Durst am Straßenrand rankten, Staub überall.
Mal schauen, wie ihr die Lesereisen erlebt habt… Für mich ist die Lektüre dieser Erzählung der jungen Autorin ein ganz großes Ereignis!
Es freut sich auf unsere nächsten sommerlichen Treffen –
Euer Jens Clausen